Grenzerfahrungen in Autenhausen

Beim Jugendcamp „Grenzenlos“ informierten sich rund 100 Teilnehmer über die ehemalige Grenze

Jugendcamp, Runde

„Kannst Du Dir vorstellen nicht von Gemünda nach Dietersdorf fahren zu können?“ Im Interview mit der 11-jährigen Emely Dünisch greift Hendrik Dressel plötzlich selbst zum Mikrofon. Nein, das kann sich das junge Mädchen nicht ausmalen. „Siehst Du, genau so ging es mir damals auch, doch wir konnten nicht einfach so nach Ummerstadt oder Lindenau reisen“, erläutert ihr der ehemalige Seßlacher Bürgermeister. Umso toller sei der Moment gewesen, als die Grenze endlich fiel und er als damals 36-Jähriger die zweite Hälfte seiner Heimat kennenlernen durfte, schildert Dressel vor laufender Kamera. Die Grenzöffnungen vor 30 Jahren mit organisieren zu dürfen, das bezeichnet der Gemünner als „Glücksstunden“.

„Kamerafrau“ Anabelle Kellner ist erst zehn Jahre alt und wusste Beginn des Jugendcamps „Grenzenlos“ in Autenhausen Ende August gar nicht, dass die Grenze so direkt an ihrem Heimatort Gemünda vorbei lief. Nun halten die beiden Freundinnen für ihren Film fest, was sie über die Zeit vor dem Mauerfall erfahren. Emely wird später beschreiben, wie die in den Westen geflüchteten früheren Bewohner, die bei den Aktionen „Ungeziefer“ 1952 und „Kornblume“ 1961 ausgesiedelt wurden, ab 1963 vom Ummerstädter Kreuz aus der Beerdigung ihrer Verwandten in Ummerstadt beiwohnten. Denn nur von hier aus war ihre alte Heimat einsehbar. Am Vortag suchte eine andere Gruppe den selben Ort auf. „Warst Du bei der Bundeswehr?“, fragte dabei der junge Pascal Fleischmann den früheren DDR-Grenzaufklärer Walter Bauer. Der bis 1990 in Ummerstadt Stationierte erläuterte ihm sogleich den Irrtum, indem er auf die Gürtelschnalle seiner alten Uniform verwies, die Hammer und Sichel zieren. Dass er dabei bereits mit einem Bein bereits in Thüringen stand, während Pascal noch in Bayern weilte, konnte der Bub kaum glauben. Wer sich früher hinter die „Bayernpfähle“ begab, die von Westseite her den Verlauf der Grenze markierten, lief Gefahr inhaftiert zu werden, erklärte Bauer seinen faszinierten jungen Zuhörern: „Nach dreimaliger Aufforderung das DDR-Hoheitsgebiet zu verlassen, wurde jeder festgesetzt.“ Während für Heranwachsende wie Pascal die früher unüberwindbar scheinende innerdeutsche Grenze kaum mehr nachvollziehbar ist, bleibt sie in den Erinnerungen der Älteren noch sehr präsent.

Solche Erinnerungen an die Zeit vor und während des Falls der Mauer ließ das Jugend- und Freizeitcamp „Grenzenlos“ in der Freizeitanlage am neuen Naturbad in Autenhausen unter dem Motto „Geschichte erleben“ aufleben. Knapp hundert Teilnehmer aus Deutschland und Österreich informierten sich an markanten Punkten entlang der Grenze, betrachteten das heutige Grüne Band mittels Drohne, besuchten das Zweiländermuseum in Streufdorf, schauten sich den Film „Ballon“ an oder probierten sich im 3D-Bogenschießen im ehemaligen Grenzgebiet. Verantwortlich für das umfangreiche Rahmenprogramm zeigte sich der ehemalige Kreisjugendpfleger Jürgen Forscht.

Jugendcamp, Gäste Gmünd

20 Acht- bis Zehntklässler der Regelschule Hildburghausen besuchten ebenfalls das Camp. „Mehr über das Leben an der Grenze zu erfahren, das hat uns interessiert“, erzählte Julian Götz aus Gompertshausen. Der 14-jährige wusste um die Geschichte des 1972 geschleiften Dorfs Leitenhausen. In der Gegend um Ummerstadt kennt sich sein Lehrer Jochen Voit bestens aus, er ist dort aufgewachsen. Die Menschen, die ihm beim Fußball spielen vom Kreuz aus zuwinkten, ebenfalls zu grüßen, war ihm strengstens untersagt. Während die über Vierzigjährigen die Vorkommnisse an der deutsch-deutschen Grenze selber miterlebt haben, sei es für die Jüngeren nur ein geschichtliches Zeitereignis, meinte der Pädagoge: „Gerade für die jungen Leute ist dieses Camp deshalb eine dringliche Veranstaltung. Aufmerksam hörten die Kinder und Jugendlichen zu, als Dressel erzählte, wie entlang der Grenze von der Ostsee bis zum bayerischen Wald allein in Deutschland 1,4 Millionen Minen lagen und dass alle nicht Linientreuen zwangsweise ihre Heimat verlassen mussten.

Während einer Wanderung von Autenhausen über das Ummerstädter Kreuz zum ebenfalls geschleiften Dorf Billmuthausen machten die Jugendlichen weitere Grenzerfahrungen. An der Schautafel am Kreuz erläuterte der ehemalige Grenzpolizist Willi Beetz ihnen den Aufbau der Grenze, von ersten Barrieren im Jahr 1952 über Minenfelder 1963 bis zum zweifachen Streckmetallzaun ab 1979. Warum es denn überhaupt zwei deutsche Staaten gab, fragte der Dietersdorfer in die Runde. Und erhielt auch gleich die passende Antwort, mit Hinweis auf die Folgen des Zweiten Weltkriegs. „Die Teilnehmer sind schon sehr interessiert“, zog Beetz später am Ziel Billmuthausen eine positive Bilanz. An das ehemalige Dorf kann sich Voit gut erinnern: „Ich war neun Jahre alt, als hier alles dem Erdboden gleichgemacht wurde“, berichtete der 51-Jährige. Sein hier ansässiger Schulkamerad Jörg Walter musste damals mit seiner Familie zwangsumsiedeln. Bis zuletzt hatten sich Anwohner wie Alwin Denner laut Bauer dagegen gewehrt ihre Heimat zu verlassen. „Als sie das Ende kommen sahen, wurde ich sogar zur Dynamit-Partie eingeladen“, so der ehemalige Grenzaufklärer. Doch statt einem Sprengkommando kamen dann die Planierraupen. Das fanden seine jugendlichen Zuhörer traurig.

Auch aus Gmünd in Kärnten reiste eine Gruppe an, angeführt vom Alpenverein-Chef Hans Jury und dem ehemaligen Postenkommandanten Helmut Unterasinger. Letzterer engagiert sich wie Dressel im Vorstand der „Gmünder in Europa“ und hatte kräftig die Werbetrommel gerührt. Was das Leben im Sperrgebiet für die Menschen bedeutete, könne sie sich nun besser vorstellen, meinte Sophie Gritzner aus Maltatal. Obwohl sie das Thema im Geschichtsunterricht bisher nicht behandelte, wurde der jungen Kärntnerin eines klar: „Früher war es hier echt blöd, aber heute haben es alle wirklich gut.“ Gritzner hat damit umrissen, was Initiator Dressel den Jugendlichen gern mitgeben möchte: Dass die Freiheiten, die sie heute genießen, wie das grenzenlose Reisen, eben nicht selbstverständlich sind. „Hast Du etwas gelernt darüber, wie das Leben an der Grenze hier früher war?“, will der 66-Jährige zum Ende des Films auch von Anabelle wissen. Ihre Antwort spricht ihm aus dem Herzen: „Ja, ich habe gelernt, dass das wirklich schlimm war, dass wir aufpassen und uns dagegen stemmen müssen, dass es nicht nochmal passiert.“

Die Erfahrungen, die sie bei der Vermittlung des Wissens um den Mauerbau und seine Folgen während des Camps gemacht haben, wollen Dressel und Forscht im Herbst bei einer Fortbildung an Lehrkräfte im Coburger Land weitergeben. Damit sich nicht bewahrheitet, was der Ex-Grenzpolizist Beetz wahrgenommen hat: „Schüler wissen heute mehr über den 30-jährigen Krieg als über die jüngere deutsch-deutsche Geschichte.“ Die Teilnehmer konnten dieses Defizit bereits aufarbeiten. Die in Autenhausen produzierten Radio- und Filmbeiträge werden auf dem Nachwuchsfilmfest Juvinale zu sehen sein. Sie sind derzeit noch abrufbar unter https://owncloud.landkreis-coburg.de/index.php/s/vLH2XTFBg1ZlZ7g

 

Fotos: Bettina Knauth